Die Frau mit dem Spiegel – Pennerin oder Prophetin?
Sie spricht nicht. Sie schaut nur.
Und sie schaut nicht dich an – sondern das, was hinter dir ist. Oder in dir. Oder du in zehn Jahren.
Die Frau mit dem Spiegel sitzt am Ausgang vom U-Bahnhof Zoo, direkt neben dem Asia-Imbiss, auf so ’nem kleinen Klappstuhl. Vor ihr: ein Handspiegel, eingerahmt von Mullbinden, Kronkorken, alten Perlenketten und Zigarettenschachteln mit goldenen Zetteln drin.
Wenn du vorbeigehst, zeigt sie dir den Spiegel. Sagt kein Wort. Und du musst entscheiden: Guckst du rein? Oder nicht?
Wer sie ist, weiß keiner.
Ein paar erzählen, sie war mal Wahrsagerin auf dem Jahrmarkt. Andere meinen, sie hat nie gesprochen, nicht mal als Kind – die hätten sie damals auf’m Friedhof ausgebuddelt, aber sie war noch warm.
Ein Typ schwört, sie hätte ihm durch den Spiegel gezeigt, dass seine Freundin fremdgeht – am nächsten Tag war Schluss.
Ein anderer sagt, sie habe ihm seinen Todestag geflüstert. Er lebt noch, aber zählt rückwärts.
Was ist mit dem Spiegel?
Der Spiegel ist nicht aus Glas. Zumindest sieht er nicht so aus. Eher wie poliertes Blech aus einer alten Heizdecke. Aber wenn du reinschaust, siehst du nicht dein Gesicht.
Du siehst dich. Ohne Schutz. Ohne Ausrede.
Mit allem, was du verdrängt hast – Sünden, Träume, Fehler, offene Rechnungen.
Ein Typ hat mal reingeschaut, dann seine Jacke ausgezogen, seine Schuhe verschenkt und ist schweigend verschwunden. Keiner hat ihn je wiedergesehen.
Regeln für den Spiegelkontakt
- Nicht anfassen. Wer den Spiegel berührt, verliert angeblich was. Keine Finger, kein Blickkontakt mit dem Rahmen.
- Nur ein Blick. Mehr als drei Sekunden sind zu viel. Dann kommt was zurück.
- Sag nichts. Wer spricht, wird gespiegelt. Und das willst du nicht. Nicht da draußen.
Ist sie verrückt?
Vielleicht. Vielleicht aber auch der Rest von uns.
Denn zwischen all den leeren Flaschen, den verbrauchten Gesichtern und dem kalten Beton ist sie die Einzige, die noch was sieht.
Vielleicht ist sie gar keine Prophetin.
Vielleicht ist sie einfach nur jemand, der schon durch ist. Der nicht mehr sucht, sondern gefunden hat. In sich. Im Spiegel.
Fazit
Die Frau mit dem Spiegel ist keine Pennerin. Sie ist ein Portal. Wer bei ihr stehenbleibt, sieht sich selbst – und manchmal reicht das, um nie wieder gleich zu sein.
Wenn du ihr begegnest: Lauf nicht. Guck auch nicht sofort rein.
Atme tief. Dann entscheide.
Denn was du im Spiegel siehst, bleibt nicht im Spiegel.